Ein Monat Mastodon

Nach einem Monat möchte ich meine bisherigen Erfahrungen mit Mastodon zusammenfassen. Mastodon ist keine einzelne Social-Media-Plattform, sondern ein Zusammenschluss. Man kann es also eine Mischung aus E-Mail und Twitter betrachten, natürlich nur sehr abstrakt gedacht. Zum Vergleich: Man kann sich für ein E-Mail-Konto bei GMail, Yahoo oder Outlook anmelden. Unabhängig davon, welchen Anbieter man wählt, kann man trotzdem mit Leuten mailen, die einen anderen Anbieter verwenden. Mastodon wendet genau dieses Modell auf Funktionalitäten an, die man von Twitter kennt an. Es gibt also viele verschiedene “Twitter”, und jeder kann sein eigenes “Twitter” einrichten, aber diese Systeme sind alle miteinander verbunden, so dass die Benutzer auch mit Leuten außerhalb ihres “Twitter” kommunizieren können, genau wie man das von E-Mail kennt.

Mastodon-Anbieter werden als Instanzen bezeichnet, und ein Nutzer einer Instanz kann Nutzern anderer Instanzen folgen und mit ihnen interagieren. In jeder Hinsicht scheint das wie eine große Social-Media-Plattform zu wirken, aber das ist es eigentlich nicht. Der wichtigste Unterschied ist, dass Mastodon nicht von einem einzigen Unternehmen kontrolliert wird. Jeder kann eine Mastodon-Instanz um wenige Euro monatlich einrichten und sie so betreiben, wie er möchte, genau wie mit einem Forum oder Message Board.

Das betrachtete ich ursprünglich als Problem. Bei Twitter kann man von Twitter verbannt werden. Auf Mastodon kann man von einzelnen Mastodon-Instanzen verbannt werden, aber nicht von Mastodon insgesamt (weil jeder eben seine eigene Instanz einrichten kann). Das schien mir ein großes Problem für die Moderation zu sein, denn wenn missbräuchliche Nutzer von einer Instanz gesperrt wurden, könnten sie einfach zu einer anderen wechseln. Ich war der Meinung, dass mit zunehmender Akzeptanz von Mastodon die Moderatoren der von Ihnen gewählten Instanz mit immer mehr Missbrauch zu kämpfen hätten. Das wäre so, als müssten E-Mail-Anbieter Spam-Filter entwickeln, um eingehenden Spam von jedem anderen Anbieter zu bekämpfen (und trotzdem kommt viel Spam durch wie wir wissen).

Nach einem Monat auf Mastodon habe ich erkannt, dass ich mich geirrt habe.

Was ich bei Mastodon nicht berücksichtigt habe, ist die völlig  andere Kultur dort. Die werbefinanzierten Social-Media-Plattformen wie Twitter sind bereit, gewaltige Mengen an Bots und Provokateuren zu tolerieren. Sie haben dasselbe herausgefunden wie viele Boulevardmedien: Negative Emotionen ziehen die Aufmerksamkeit der Menschen stärker auf sich als positive. Hass und Angst führen zu Engagement, und Engagement führt zu mehr Werbeeinblendungen.

Mastodon ist keine werbefinanzierte Plattform. Es gibt absolut keine Anreize schreckliche Menschen dort Amok laufen zu lassen. Das Ziel von Mastodon ist es, eine freundliche Sammlung von Gemeinschaften aufzubauen, keine aufmerksamkeitsheischende Community. Daher haben sich die meisten Betreiber von Mastodon-Instanzen beispielsweise darauf geeinigt, dass Hassreden nicht erlaubt sein sollten. Das alleine ist schon ein großer Unterschied zu Twitter, aber da ist noch mehr. Was an Themen erlaubt ist und was nicht, hängt von der jeweiligen Instanz ab, so dass man auf Basis seiner Präferenzen Instanzen wählen kann die zu einem passen.

Jetzt fragt man sich vielleicht, wie man eine freundliche Atmosphäre aufrechterhalten kann, wenn jeder einfach seine eigene Mastodon-Instanz starten und Hass verbreiten kann?

Die meisten Mastodon-Server laufen auf Spendenbasis oder werden von Vereinen betrieben, was eine ganz andere Dynamik erzeugt. Für eine toxische Plattform ist es sehr einfach, Einnahmen durch Werbeeinblendungen zu generieren, aber die meisten Menschen sind nicht bereit, ihr hart verdientes Geld zu zahlen, um den ganzen Tag von Extremisten angeschrien zu werden. Dafür will man nicht bezahlen. Deshalb wird das Abo-Modell von Twitter übrigens niemals funktionieren. Bei Mastodon finden die Leute eine Community, die ihnen Spaß macht, und sind daher gerne bereit, für den Erhalt zu auch mal zu spenden. Das bringt eine neue Dynamik ins Spiel.

Da Mastodon im Grunde ein Netzwerk von Communities ist, kann man erwarten, dass die Moderatoren für ihre eigene Community verantwortlich sind, was die Belastung für alle senkt. Nehmen wir an, man betreibt  eine Mastodon-Instanz und ein Benutzer einer anderen Instanz ist Ihren Benutzern gegenüber problematisch geworden. Sie melden ihn den Moderatoren seiner Instanz, aber die Moderatoren weigern sich zu handeln. Was können Sie ins so einem Fall als Moderator einer Instanz tun? 

  1. Sie können das Konto des Benutzers für die Kommunikation mit Ihrer Instanz sperren, so dass seine Beiträge niemanden in Ihrer Instanz erreichen können.
  2. Sie können die gesamte Instanz des Nutzers für die Kommunikation mit Ihrer Instanz sperren, so dass niemand in dieser Instanz mit jemandem in Ihrer Instanz kommunizieren kann.

Nun, Nr. 2 mag übertrieben und übermäßig dramatisch klingen, aber das macht Mastodon so schön.

Anstatt von Instanzmoderatoren zu erwarten, dass sie die eingehende Toxizität von Tausenden von anderen Instanzen moderieren, können Instanzinhaber für ihre Nutzer stark zur Verantwortung gezogen werden. Wenn eine Instanz wegen unzureichender Moderation blockiert (de-federated) wird, kann jeder auf dieser Instanz niemanden mehr auf einer anderen Instanz erreichen, die sie blockiert hat, das ist mühsam. Das wirkt sich nicht nur auf die Erfahrung der Benutzer der entzogenen Instanz aus, sondern gibt ihnen auch ein Gefühl der Schuld durch Assoziation. Aber wie kann ein derartiger Kollateralschaden überhaupt eine gute Sache sein, werden Sie sich fragen.

Nun, Mastodon-Nutzer haben die Möglichkeit, ihre Konten problemlos zwischen Instanzen zu übertragen. Wenn die  Instanz auf der sie ihr Konto haben anfängt, Extremisten willkommen zu heißen, können Sie umziehen. Wenn Ihre Instanz wegen Missbrauchs aus dem Verbund genommen wird, können Sie umziehen. Viele Menschen haben Twitter wegen der Ausbreitung des Extremismus verlassen. Das hatte einen hohen persönlichen Preis, denn es gibt kein anderes Twitter. Bei Mastodon gibt es immer eine andere Instanz. Man kann zu einer anderen Instanz wechseln, hat dieselben Funktionen, behält alle seine Follower und kann immer noch über das Fediversum mit Leuten auf anderen Instanzen kommunizieren.

Mastodon funktioniert, weil die Nutzer selbst entscheiden können, ob sie Kollateralschaden sein wollen. Wenn eine Instanz aufgrund von Extremismus de-fedriert wird, können die Benutzer ihre Moderatoren zum Handeln zwingen, um die Wieder-Fedrierung zu erreichen. Andernfalls müssen sie die Entscheidung treffen, ob sie mit dem Schiff untergehen oder einfach umziehen wollen. Dies schafft ein gesundes, sich selbst regulierendes Ökosystem, in dem, sobald eine Instanz de-fedriert wird, vernünftige Benutzer ihre Konten verschieben und unvernünftige zurücklassen, was die De-fedrierung weiter rechtfertigt und dazu führt, dass sich immer mehr Instanzen für die De-fedrierung der beleidigenden Instanz entscheiden.

Da die Instanzbesitzer ihre Instanz entweder für die Gemeinschaft oder mit Spendengeldern betreiben, ist der Verlust von Benutzern sehr schädlich. Daher gibt es eine Ökonomie der Verantwortlichkeit, die die Moderation an die Quelle und nicht an das Ziel verlagert. Es liegt im besten Interesse eines Instanzinhabers, eine möglichst freundliche Gemeinschaft zu pflegen, da dies neue Nutzer anzieht und ausscheidende Nutzer hält. Wenn Instanzmoderatoren für ihre eigene Instanz verantwortlich sind, wird die Moderationslast für andere Instanzen erheblich reduziert. Außerdem wird ein System der doppelten Moderation geschaffen, bei dem die Moderatoren der Empfängerinstanzen den Schaden wiedergutmachen können, wenn den Moderatoren der Ausgangsinstanz etwas Schlechtes unterläuft.

Nachdem ich nun einige Zeit auf Mastodon verbracht habe, ist mir klar geworden, wie sehr ich mich in Bezug auf die Moderation geirrt habe. Ich habe Mastodon durch die Brille von Twitter gesehen und nicht als eine andere Kultur mit einer anderen Technologie. Ich kann jetzt mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Mastodon freundlicher ist als Twitter und es auch bleiben wird, unabhängig davon, wer und wie viele beitreten.

Ich finde es gut, dass sich alle einig sind, dass es keinen zügellosen Extremismus geben soll. Mir gefällt die Art von Mastodon, bei der man selbst entscheiden kann, welches Abenteuer man erleben möchte. Wenn etwas nicht blockiert ist und man sich wünscht, dass es blockiert wäre, kann man zu einer Instanz wechseln, in der es blockiert ist. Umgekehrt kann man, wenn etwas blockiert ist und man sich wünscht, es wäre nicht blockiert, zu einer Instanz wechseln, wo es nicht blockiert ist.

Der entscheidende Fehler der sozialen Medien wie Twitter war der Versuch, Menschen mit völlig unvereinbaren Ansichten zu zwingen, im selben Raum zu koexistieren. Im wirklichen Leben kann ich mir aussuchen, mit wem ich Umgang pflege. Ich bin ganz sicher nicht auf der Suche nach einer Echokammer. Ich möchte, dass meine Ansichten in Frage gestellt und diskutiert werden, aber nur von Menschen, die zu einem zivilen Diskurs fähig sind. Wir sollten diskutieren, wir sollten neu bewerten, wir sollten zugeben, wenn wir falsch liegen. Das ist nicht der Status quo im Internet.

Traditionelle soziale Medien fördern nicht die Gedankenvielfalt, sie sind im Grunde eine Echokammer, wenn auch eine, die dazu ermutigt, Passanten, die eine andere Meinung haben, zu beschimpfen. Mastodon fühlt sich viel eher an, als würde man sich mit vernünftigen Freunden und Bekannten treffen, während Twitter dem entspricht, dass man 15 rassistische, betrunkene Onkel hat, die einem auf Schritt und Tritt folgen.

Ich hoffe wirklich, dass föderale Netzwerke die Zukunft der sozialen Medien sein werden.

Übersetzung eines Blogposts von Marcus Hutchins.